Und drei gute Gründe, Rollenspiel fürs Lernen zu nutzen.
von Roger Schaller, erschienen im "Handbuch für Personalberatung 2002"

1. Wir sind doch hier nicht im Kindergarten

Ein Vater, dessen erstgeborener Sohn wegen massiven Lernschwierigkeiten bei mir in Behandlung ist, erzählte mir voller Stolz, dass sein zweiter Junge jetzt eingeschult werde. Die Zeit des Spielens sei jetzt vorbei, sagte der Vater, er habe das Kinderzimmer von den Spielsachen entrümpelt. Auf meine ungläubige Nachfrage bestätigte er, dass er sämtliche Spiele weggegeben habe: "jetzt ist doch Zeit zum Lernen, die Kinder haben genug gespielt".
Dieser Gegensatz zwischen Spielen und Lernen ist in vielen Köpfen fest einbetoniert. Auch im Bereich Erwachsenenbildung gehen die Lernerwartungen meist dahin, dass Lernen etwas ernsthaftes ist. Spielerische Lernmethoden werden heute dann gut akzeptiert, wenn das Lernziel klar definiert ist und die Methode vertraut ist. Oft werden Spiele im Lernprozess eingesetzt als belebende Unterbrechung des Lerngeschehens, damit Anspannung und Entspannung im gesunden Wechsel aufeinanderfolgen. Der Lernende braucht einen Positionswechsel, eine Phase der Bewegung, Aktivierung oder Entspannung; er braucht frische Luft und Wasser, denn das sind die Elemente, die unsere grauen Zellen bei Laune halten.(Wallenwein 199, S.12)

Spiele sind aber vor allem dann interessant, wenn sie als freies Handeln empfunden werden. Befohlenes Spiel ist kein Spiel mehr. Die Freiheit des Spiels bedeutet nicht, dass, dass das Spiel keine Regeln und keinen Zweck verfolgt. Sowohl Rollenspiele wie auch andere Spiele haben meist ganz eng definierte Regeln und konkrete Zielsetzungen (wie beispielsweise den Ball ins Netz werfen). Freiheit im Spiel bedeutet ein Freisein von den Bedürfnissen des instinktiven oder bezweckenden Daseinskampfes, ein Freisein von Verantwortung und intendierten Konsequenzen für das Leben ausserhalb des Spiels.(Krause-Pongratz S. 39)

Wenn Seminarteilnehmer sich gegen den Einsatz der Methode Rollenspiel wehren, so haben sie durchaus recht: Rollenspiele sind unkotrollierbar und enden gerne in einem kreativen Chaos. Ausserdem ist oft zu beobachten, dass Rollenspiele nicht zum geplanten Lernziel führen, oft viele Fragen aufwerfen, eine lösungsorientierte Auswertung erschweren können.
Zusätzlich stehen wir als Seminarleiter meist unter Zeitdruck: wir sind nicht im Kindergarten, wo unermesslich viel Zeit für zweckfreie und kreative Tätigkeiten vorhanden ist.
Nein: wir müssen in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Lernziele erreichen. Das geht mit Rollenspiel ganz sicher nicht.

2. Wir sind doch nicht im Theater, oder?
Stellen Sie sich vor, sie besuchen als Teilnehmer eine Bildungsveranstaltung. Nach einer kurzen Einführung, bittet Sie der Leiter aufzustehen. Das ist doch wirklich nicht angenehm. Schliesslich müssen Sie in ihrem Arbeitsalltag immer aktiv sein, jetzt möchten Sie doch mal einen Lern-Konsum über sich ergehen lassen. Aber es wird noch schlimmer: der Leiter bittet Sie eine Rolle zu spielen. Sie fragen sich, was denn hier abläuft. Wir sind doch nicht im Theater. "Habe ich mich etwa für einen Schauspielkurs angemeldet?"
Nein, beenden wir diesen Alptraum. Ich wollte nur zeigen, dass Rollenspiele bei den Teilnehmern meistens Angst, Verunsicherung und Ablehnung auslösen. Und dies mit Recht: Wieso eine Szene spielen, wenn darüber diskutiert werden kann? Wieso soll der Lernende etwas handelnd erfahren, wenn doch der Sachinhalt erklärt werden kann? Was bringt der künstliche Rahmen der Simulation, wo doch der Inhalt beschrieben werden kann?
Und sehr problematisch ist der Begriff der Rolle: "Rolle" ist vom lateinischen "rotula" abgeleitet. In Griechenland und ebenso im alten Rom wurden Teile der Theaterstücke auf solche "Rollen" geschrieben und von den Souffleuren den Schauspielern vorgelesen, die versuchten, ihren Part auswendig zu lernen. "Eine Rolle spielen" bedeutet also einen fremden Text sprechen, und die entsprechenden Gefühle und Handlungen vorspielen. Der Begriff der Rolle ist dementsprechend mit Fiktion und Künstlichkeit behaftet. Wer eine Rolle spielt, ist demnach nicht echt, versteckt sich hinter einer "rotula", spielt nur etwas vor. Und das macht absolut keinen Sinn an einer Bildungsveranstaltung. Ausser vielleicht dass es Spass macht.

3. Rollenspiele sind künstlich und unnütz
Stellen wir uns mal vor, ich bin Nichtschwimmer. Weil ich die nächsten Ferien am Meer verbringen möchte, melde ich mich für einen Schwimmkurs an. Am ersten Kurstag wird mir mitgeteilt, dass das Schwimmbad wegen Renovationsarbeiten geschlossen ist. Daher werden wir in simulierten Situationen die Schwimmbewegungen trainieren. Um die korrekte Kopfbewegung beim Einatmen zu üben, werden wir den Kopf in grosse, mit Wasser gefüllte Salatschüsseln eintauchen.
Im künstlichen Rahmen des Rollenspiels entsteht die Illusion des entdeckenden-handelnden Lernens. In Wirklichkeit wird aber nur das im Moment sozial erwünschtes Verhalten gezeigt. Die Simulation führt oft zu erwünschten Scheinlösungen, die keine Handlungsrelevanz im Alltag haben. Oder würden Sie nach diesem simulierten Schwimmtraining den Sprung ins Wasser wagen?

Aber sicher.

1. Spielen heisst Lernen
Die Kinderärztin und Pädagogin Maria Montessori beobachtete in einem Kinderasyl, wie die schwer verhaltensauffälligen und lerngestörten Kinder Teile ihrer Nahrung, vor allem Brot, zu Teig verarbeiteten und mit diesen Figuren spielten (anstatt zu essen). Dabei bemerkte sie die eigentümliche Konzentration, zu der diese Kinder im Spiel fähig waren. Wie wenn sie in einer anderen Welt wären, waren sie ganz im Spiel versunken. Und störte man sie dabei, war es so als erwachten sie aus einem Traum. Montessori schloss daraus, dass der Mensch im Spiel in einem besonders kreativen und lernfördernden Zustand ist. Dieses Gefühl des Fliessens im Spiel ("Flow"-Erleben) kann bei Kindern einfach beobachtet werden und ist der Schlüssel zum Lernen. ªDas Zeit erleben ist stark beeinträchtigt, man vergisst die Zeit und weifl nicht, wie lange man schon dabei ist. Man muss sich nicht aktiv konzentrieren, vielmehr kommt die Konzentration wie von selbst, ganz so wie die Atmung. Es kommt zur Ausblendung aller Kognitionen, die nicht unmittelbar auf die jetzige Ausführungsregulation gerichtet ist. Man erlebt sich nicht mehr als abgehoben von der Tätigkeit, man geht vielmehr gänzlich auf in der eigenen Aktivität (sog. Verschmelzung). Der Handlungsablauf wird als glatt erlebt. Ein Schritt geht flüssig in den nächsten über, als liefe das Geschehen aus einer inneren Logik.´ (Oerter 1997,S.7)
Kinder sind richtige Lernprofis; in nur wenigen Jahren erlernen sie eine ungeheure Menge an neuen Fertigkeiten und Wissen, mit einer "fliessenden" Leichtigkeit. Wie automatisch lernen die Kinder im Spiel.
Welche Lernspiele gehören nun zu unseren angeborenen Lerntechniken? Oerter (1997) unterscheidet fünf verschiedene Formen von kindlichen Lernspielen: Sensomotorik-, Symbol- Parallel-, Rollen- und Regelspiele.

Sensomotorische Spiele:- Im ersten Lebensjahr können wir Kleinkinder bei verschiedensten Wahrnehmungs- und Reaktionstrainings beobachten. Der Säugling sucht ab Geburt aktiv nach sensorischer Stimulierung und reagiert auf diese Impulse. Besondere Freude zeigt das Kleinkind an regelmässig wiedeholten Bewegungen, taktilen, auditiven und visuellen Reizen. auch das einmalige Auslassen oder unerwartete Abbrechen dieser Reize gehört zum Spiel. Beispiele sind das "Guck-guck-Spiel" oder "Hoppe-hoppe-Reiter". Der Lernprozess scheint hier die Form von Hypothesenbildungen und –Prüfungen abzulaufen: "Ist das gleich wie das was mir bereits begegnet ist? Taucht das gleiche Gesicht wieder auf? Werde ich beim dritten Hopp wieder fallen?" Das Kind wird dadurch herausfinden, welche Merkmale eines Ereignisses invariant sind, d.h.wesentliche und stabile Merkmale dieses Ereignisses oder Gegenstandes sind. Es fängt an seine Umwelt zu Kategorisieren.

Symbolspiele: -Ab dem zweiten Lebensjahr wird die Lernmethode der symbolischen Handlung benutzt. Bei Mächen ist dies oft das Spielen mit Puppen und Tierfiguren: ein kompetenter Partner (oft ältere Geschwister oder Mutter) macht eine Handlung vor und das Mädchen gibt dann seiner Puppe das Fläschchen (dazu benutzt es einen flaschenähnlichen Gegenstand) oder sie "liest" ein Buch, d.h. sie ahmt die beobachtete Handlungsweise mit einem Buch nach (kann aber klar noch nicht lesen). Symbolspiele dienen einerseits dem Einüben und Memorisieren von beobachteten wichtigen Handlungen, wie Ernährung, Hygiene, Kampf etc. Nebst diesem eher mechanischen "learning by doing", sind Symbolspiele wichtig um eigene Handlungsschemata nach eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen zu entwickeln. Also schlussendlich konstitutiv und notwendig für die kognitive Entwicklung.

Parallelspiele:- Kinder spielen nebeneinander, beobachten sich gegenseitig, benutzen die gleichen Gegenstände, imitieren einander, greifen aber nicht in das Spiel des anderen ein. Zu beobachten ist dies vor allem bei Sandspielen auf dem Spielplatz oder am Strand: die Kinder benutzen wechselseitig die gleichen Gegenstände, produzieren die gleichen Türme und Kuchen ohne in eine manifeste Interaktion zu treten (aufler wenn sie die gleiche Schaufel beanspruchen ...). Jede auch noch so einfache Handlung ist mit Emotionen verbunden. In den Symbol- und Parallelspielen kann diese soziale Abstimmung der Emotionen erlernt werden. Bei 2 bis 3jährigen Kindern scheint dies die häufigste Spielform zu sein.

Rollenspiele- sind gekennzeichnet durch eine doppelte Als-ob-Situation: Ich tue, als ob ich eine Mutter wäre, und tue so , als ob du ein Baby wärst und ich gebe dir dein Fläschchen. Rollenspiele sind also doppelt simulierte Symbolspiele. Sie bedingen ein grofles Wissen an Handlungsabläufen, Rollenbeschreibungen und sozio-kulturellen Regeln (beispielsweise muss ich wissen, wie eine Mutter ist, um eine Mutter zu spielen).Bei diesen Rollenspielen handelt es sich um komplexe soziale Fiktionsspiele. Kinder lernen dabei die Regeln des menschlichen Zusammenlebens und die Erwartungen, Verhaltensweisen, Rechte und Pflichten, die mit einer bestimmten Position in der Gesellschaft verbunden sind (Rollenerwartungen).
Oerter (1997, S.46) berichtet von einem Rollenspiel, bei dem Kinder im Alter von 3 bis 7 Jahren aufgefordert wurden, sich selbst in einer bestimmten simulierten Situation zu spielen. Die jüngeren Kinder weigerten sich, mit der Begründung, man könne so nicht spielen (oder verliessen den Raum kommentarlos). Die ƒltesten versuchten ansatzweise dieses Spiel, brachen aber nach kurzer Zeit ab. Dies zeigt die Bedeutung der Fiktion: die doppelte Als-ob-Situation. Das Kind nimmt seine spätere Entwicklung, bzw. seine Entwicklungsmöglichkeiten vorweg, indem es in die Rollen anderer Personen hineinschlüpft und deren Motive, Wünsche und Ziele zu verstehen trachtet oder kreiert.(Oerter S.50).Und das Kind entwickelt im Rollenspiel seine soziale Identität, Werte und Normen. In einem psychologischen Experiment mit sechjährigen Kindern zeigte sich, dass diejenigen Kinder, die in einer Reihe von Spielen den Perspektivenwechsel durch Rollenübernahme (mit häufigem Rollenwechsel) geübt hatten, eher bereit waren, ihre Süssigkeiten mit bedürftigen Kindern zu teilen, als Kinder ohne Erfahrung im Rollenspiel. Erfahrungen auf dem Gebiet der Rollenübernahme können offensichtlich das Empathie- und entsprechend auch das Altruismusniveau steigern (vgl. Mussen 1993, S.94).

Regelspiele, -wie das Mühlespiel, Schwarzpeter, Quartett, Schach oder Fussball sind etwa ab dem 4.Lebensjahr möglich und erhalten dann immer grössere Bedeutung. Sie sind zentral, um die Planung und Steuerung des eigene Handelns zu verbessern und soziale Kompetenzen zu trainieren. Regelspiele werden meistens im sozialen Wettbewerb zwischen zwei oder mehreren Spielpartnern durchgeführt. Von grösster Bedeutung ist dabei der Perspektivenwechsel: der Spieler versucht die nächsten Spielhandlungen der Partner zu erahnen. Dies gilt sowohl beim Knobeln, beim Versteckspiel, wie bei Karten- oder Brettspielen: "welchen Zug wird mein Gegner machen, was kann ich darauf antworten? ". Besonders komplex wird diese Perspektivübernahme bei den Mannschaftsspielen: hier muss jeder Teilnehmer die Handlungsweisen seiner Teammitglieder kennen oder erahnen, implizit oder explizit muss eine gemeinsame Strategie entwickelt werden, bezogen auf die vermutete Strategie der gegnerischen Mannschaft.
Spielen, in seinen verschiedenen Formen, ist eine lebensnotwendige und konstitutive Form des Lernens. Spielen ist eines der allerfundamentalsten geistigen Elemente des Lebens: ªSpielender Wetteifer als Gesellschaftsimpuls, älter als die Kultur selbst, erfüllte von jeher das Leben und brachte die Formen der archaischen Kultur wie Hefe zum Wachsen.(...) Die Folgerung muss sein: Kultur in ihren ursprünglichen Phasen wird gespielt. Sie entspringt nicht aus Spiel, wie eine lebende Frucht sich von ihrem Mutterleibe löst, sie entfaltet sich in Spiel und als Spiel.´ (Huizinga 1997, S.189).
Der Mensch ist aber nicht nur ein Spieler wenn er spielt, sondern er ist auch Spieler wenn er denkt: wir führen ständig fiktive Spiele im Kopf, sogenannte mentale Trainings. Beispielsweise wenn mir jemand erklärt, wie ich eine Maschine bedienen muss: ich spiele die notwendigen Bewegungen im Kopf durch. Oder nachts im Bett, wenn ich nicht schlafen kann, weil mich ein Konflikt belastet: ich lasse die Bilder der erlebten Situation wie ein Film vor dem inneren Auge durchziehen und spiele mental verschiedene Varianten durch.
Wir wollen uns diese "Gehirn-Rollenspiele" im nächsten Abschnitt noch etwas genauer anschauen.
2. Die vier Theater im Gehirn
Wir haben gesehen, dass Spielen eine lebensnotwendige und konstitutive Form des Lernens ist. In diesem Abschnitt möchte ich Sie überzeugen, dass Rollenspielen eine äusserst hirngerechte Form des Lernens ist.
Das Gehirn ist keine übersichtlich angelegte Hardware, sondern eher mit einem wild verwachsenen Dschungel aus 100 Millionen Nervenzellen vergleichbar. Diese Neuronen sind zunächst runde Zellkörper, die dann Fortsätze ausbilden, die sogenannten Axone und Dentriten. Jede Nervenzelle hat ein Axon sowie bis zu sage und schreibe 100 000 Dentriten. Dentriten sind die wichtigsten Bahnen, über die Informationen an die Neuronen gelangen (und damit einen Lernprozess in Gang setzen), und die Axonen sind die wichtigsten Bahnen, über welche die Neuronen Informationen an andere Neuronen weiterleiten (und damit Lernstoff übermitteln). Die Neuronen und ihre Tausende von Nachbarzellen verzweigen sich in alle Richtungen durch Verästelungen, die sich wiederum verknüpfen und ein vielfach verzweigtes Netz mit 100 Billionen sich unablässig verändernden Konstellationen bilden. Diese Verknüpfungen steuern unseren Körper und unser Verhalten, während gleichzeitig jeder Gedanke und jede körperliche Aktivität diese Verknüpfungsmuster verändert.(Ratey 2001, S.27).
Wie diese Prozesse aber genau ablaufen, wie diese Verknüpfungsmuster im komplexen synthetischen Mechanismus des Gehirns integriert sind, entzieht sich unserem Wissen. Die experimentelle Gedächtnisforschung, Informationsverarbeitungtheorie, Neuropsychologie und Lernpsychologie haben wesentliches zum "gehirngerechten Lernen" beigetragen. So wissen wir heute, dass der Lernstoff auf die Kanalkapazität der Lernenden Rücksicht nehmen muss. Oder dass die beiden Gehirnhälften beim Lernen aktiviert werden sollen. Oder dass nicht jeder Mensch gleich lernt, sondern verschiedene Lerntypen anzutreffen sind, wie der visuelle Sehtyp, der auditive Hörtyp, der verbale Gesprächstyp oder der haptische Fühltyp. Und neuerdings erkennen Neurowissenschaftler, dass das menschliche Denken und Handeln weitgehend von Grundgefühlen wie Interesse, Angst, Wut, Trauer und Freude bestimmt wird. Das Gehirn wird also offensichtlich von "Bauch aus" gesteuert. Das menschliche Gehirn ist wahrlich ein Dschungel.
Stellen wir uns nun vor, dass sich durch diesen Dschungel ein Fluss windet. Dieser Fluss symbolisiert die neurophysiologische Aktivität unseres Gehirns das. Der Fluss ist breit und hat wenig Gefälle und Strömung, sodass ein grosser physiologischer Austausch flussaufwärts wie flussabwärts stattfindet. Was also an einem Ende des Flusses passiert hat Auswirkungen auch weiter vorne. Wenn in einem Flussabschnitt viele Algen wachsen, so verändert dies den Sauerstoffgehalt des Wassers flussaufwärts, wie auch abwärts. An diesem Fluss liegen vier Theaterbühnen:

Das erste Theater – Wahrnehmung: -Sie ist der Beginn aller Erfahrung. Das Gehirn verarbeitet die Informationen, die es aufnimmt, nicht einfach mechanisch. Die Wahrnehmung ist die Bühne, auf der alle Informationen, die durch unsere fünf Sinne aufgenommen werden auftreten. Die sinnliche Wahrnehmung funktioniert hierbei nicht wie eine Fotoplatte, die belichtet wird und so ein exaktes Abbild der Realität darstellt. Vielmehr erzeugt unser Gehirn auf dieser Bühne eine eigene Wirklichkeit. Die äussere Welt wird konstruiert. Diese Konstrukte sind nicht wahr oder falsch, sondern sie sind viabel, d.h. sie funktionieren und ermöglichen ein erfolgreiches Handeln. Im Gehirn wird sozusagen Puzzle gespielt: eine neue Information wird mit bereits vorhandenen Konstrukten verglichen und eingepasst. Hierbei kommt dem Gedächtnis eine ganz zentrale Funktion zu: die Informationen werden nicht einfach mechanisch abgespeichert; das Gehirn verschmilzt sozusagen jedesmal mit den Informationen, die es verarbeitet, indem es die Verknüpfungsmuster der Neuronen verändert. Dies ist grossartig für die Lernfähigkeit des Menschen, gleichzeitig aber auch gefährlich, da Wahrnehmungsfehler weitere Wahrnehmungsfehler begünstigen und Wahrnehmungsmuster mit der Zeit richtiggehend im Gehirn eingebrannt sind.
Mit Rollenspiel können wir nun auf dieser Bühne arbeiten, um Wahrnehmungsfehler und schwarze Flecken zu vermeiden oder zu korrigieren.
Mit dem Szenenaufbau im Rollenspiel wird der Lernende zum Schöpfer seiner eigenen Wiriklichkeit: er stellt die Situation so dar, wie er sie erlebt hat, er zeigt sozusagen die innere Landkarte seines Gehirns. Schacter (1999) meint, dass Stress möglicherweise die chemische ‹bertragungskapazitat der Neuronen verändert und so zu Wahrnehmungs- und Erinnerungsstörungen führen kann. Durch die szenische Darstellung wird der Lernende zum Beobachter seiner eigenen Wahrnehmung. Mit verschiedenen Techniken des Rollenspieles wie Rollenübernahme, Aufstellungen, Standbilder, Spiegeln (vgl. Schaller 2001), wird der Lernende zu einem ‹berprüfer seiner eigenen Erinnerung: in der geschützten Situation eines Trainingsseminares, kann er in eine vergangene Zeit zurückgehen, mit anderen Gefühlen als in der real erlebten Situation.

Das zweite Theater - Aufmerksamkeit, Bewusstsein und Kognition:- Wenn die Aufmerksamkeit getrübt ist, das kognitive Netzwerk ungenügend ausdifferenziert ist oder das Bewusstsein nicht ständig Anpassungen und Korrekturen vornehmen kann, bleibt das Gehirn in einem ständigen "Rauschen" gefangen und muss ohne präzise Informationen auskommen. Das Gehirn versucht die Wahrnehmungen ständig sinngebend zu organisieren, es fertigt kognitive Landkarten seiner Umgebung an. Einige Neuronengruppen sind ständig damit beschäftigt, diese Karten instandzuhalten. Bei positivem (wie beispielsweise Verliebtheit) oder negativem Stress (wie Zeitdruck oder Bedrohung) verengt sich der Aufmerksamkeitsfocus, das Bewusstsein ist eingeschränkt, die Landkarten werden an die aktuellen Situation angepasst.
Verschiedene Techniken des Rollenspieles ermöglichen es, diese Landkarten bewusst zu machen und kritisch zu prüfen, durch:
eine Analyse des Szenenaufbaues (Wo ist der Focus? Was wird ausgeblendet? Welche Rollen wurden besetzt?) mit dem szenischen Spiegeln. Hierzu nimmt der Leiter den Protagonisten von der Bühne herunter, lässt ihn von aussen auf die Szene schauen und spricht mit ihm über das was beide gemeinsam wahrnehmen. Dabei prüft der Protagonist zwei Dinge: 1. Er vergleicht sein inneres Selbstbild mit der Wahrnehmung seiner selbst von aussen und prüft, ob eine Diskrepanz zwischen beiden besteht. 2. Er stellt fest, ob sein äusseres Rollenverhalten mit seinen eigenen therapeutischen Zielvorstellungen, Werten und Normen übereinstimmt. Der Protagonist soll sich aus einer höheren Warte aus, von der Meta-Ebene aus, die Szene ansehen. (Krüger 1997, S.148).

Im Rollenspiel, ev. mit Rollenwechsel, kann sich der Lernende selbst erkennen und erleben. Durch das im Spielverlauf durchgeführte Rolleninterview ("Was geht Ihnen jetzt durch den Kopf? Welche Chancen rechnen Sie sich aus? Was ist Ihnen wichtig? Wie könnten Sie sich mehr Klarheit verschaffen?" usw.) erhält er Aufschluss über seine Landkarten.
Beim explorativ-integrierenden Spiegeln übernimmt der Leiter die Rolle des Protagonisten, lässt sich ganz auf deren inneren Selbstorganisationsprozess ein und gestaltet ihn über die Realität hinaus weiter aus, indem er das Empfinden, Fühlen, Denken und Wahrnehmen und die Impulse und Gegenimpulse in der Rolle des Protagonisten entwickelt, integriert und verbalisiert.(..) Der Leiter ergänzt die inneren Strukturelemente des Protagonisten durch integrierende und das Erleben amplifizierende Bilder und gibt dadurch den vegetativen Empfindungen und den Emotionen in einer komplexeren inneren Struktur einen angemessenen Ort, eine angemessene Zeit, Logik und Sinn. FUHR spricht diesbezüglich von "Knüpfarbeit" zwischen den verschiedenen Selbstbildanteilen.(Krüger 1997, S.146)

Das dritte Theater – Zentralfunktionen: -Die Zentralfunktionen nehmen Augenblick für Augenblick Einfluss auf unser Erleben, passen sich aber langsam an neue Gegebenheiten an. Aufgrund der Aktivitäten auf den beiden ersten Bühnen modifizieren die Netzwerke des Gehirns fortwährend ihre Verbindungen untereinander, so dass Langzeitgedächtnis, Bewegungsmuster, Motivation, emotionale Neigung, soziale Ansprechbarkeit. Wie auf den anderen Bühnen, so können auch auf der dritten Bühne Probleme ganz eigener Art entstehen, die etwa Sprache, Zeitgefühl, Angstreaktionen, Aktivationsniveau sowie körperliche und zwischenmenschliche Geschicklichkeit betreffen. So kann beispielsweise die Fähigkeit, auf andere Menschen zuzugehen, stark beeinträchtigt sein und die betreffende Person ist nicht in der Lage sein Befinden und seine Bedürfnisse zu artikulieren. Auf dieser dritten Bühne kann vor allem mit den Rollenspiel-Techniken des Doppelns und des Rollentausches gearbeitet werden, um die Situationswahrnehmung nach Innen und Aussen zu erweitern und dadurch Verbindungen herzustellen zwischen vorher unverbundenen Elementen auf der inneren Landkarte.
Die Technik des Doppeln wird mit der Zielsetzung eingesetzt, die Gefühle, Gedanken und Ziele des Rollenspielers zu klären und zu verdeutlichen. Dabei tritt ein Gruppenmitglied oder der Leiter hinter den Rollenspieler und spricht Gedanken aus, die der Rollenspieler haben könnte. Der Doppler verlässt sich hierbei vollkommen auf seine Intuition. Trifft seine Vermutung zu, so kann dies der betreffenden Person helfen, sich über eigene Gefühle, Motive und Wünsche Klarheit zu verschaffen.
Die Technik des Rollentausches besteht darin, dass eine gegenseitige Rollenübernahme stattfindet: zwei Rollenspieler wechseln jeweils in die Rolle des anderen. Sie versuchen die bisher wahrgenommenen Handlungsweisen des Gegenübers möglichst genau zu übernehmen und imitieren seine Sprechweise, Mimik, Gestik und Körperhaltung. Im Rollentausch übernimmt er die Rolle des anderen in Beziehung zu sich selbst und vermittelt dadurch Einsicht in Ursache und Wirkung in der Beziehung und damit Erkenntnis über die eigene Art Beziehungen zu gestalten. Die Rollentauscher schlüpfen sozusagen in die Haut des anderen und probieren aus, wie sich das anfühlt und betrachten sich mit den Augen des anderen. Ein radikaler Perspektivenwechsel.

Die vierte Theater – Identität und Verhalten:- Die vierte Bühne bildet sozusagen das am einfachsten sichtbare Endprodukt unserer Gehirnprozesse. Unser Leben in seinen verschiedenen Rollen wird auf dieser Bühne gespielt. Es ist die Bühne, auf der wir uns selber darstellen und unsere Lebensgeschichte erzählen. Konfliktmanagement, Organisationsetwicklung, Teamberatung, Coaching und Supervision finden üblicherweise auf dieser Bühne statt. Das Rollenspiel bietet für die Arbeit auf dieser Bühne verschiedene hervorragende Techniken an: Rollentraining, Situationsspiel, Soziodrama, Standbilder, Aufstellungen, Forumtheater, Rollenanalyse (vgl. Schaller 2001).
Das Rollentraining spielt hierbei eine ganz wichtige Rolle. Unter Rollentraining verstehen wir das trainieren von lebensnahen Rollen in einer simulierten aber realitätsnahen Szene. Die Rollenspieler erhalten präzise Angaben (mündlich oder schriftlich) zu Ort, Zeit, Handlung, Zielsetzung und Charakteristiken der Person. Typische Rollentrainings sind das Einüben von Fremdsprachen, Vorstellungsgesprächen, Verkaufstrainings, Umgang mit Reklamationen, Konfliktmanagement. Rollentraining bedeutet also das üben von Rollenadäquatem Verhalten. Wieso nun sind Rollentraining auf der Bühne des vierten Theaters im Gehirn so wichtig?
Die neuronalen Verbindungen, die für das ‹berleben notwendig sind (wie die Kontrolle des Herzschlages, der Körpertemperatur, der Atmung etc.) sind schon bei der Geburt angelegt, aber viele andere werden durch den stärksten Umweltfaktor in unserem Leben bestimmt, das Lernen. Hierbei stehen die Neuronen in einem unablässigen Wettstreit um neue Verknüpfungen. Positiver Stress stellt für das Gehirn eine Herausforderung dar und erlaubt die ständige Erweiterung von neuronalen Verknüpfungen. Aufgaben die zur Routine werden, werden in den subcortikalen Hirnbereich verlagert und dort fest "verdrahtet" abgelegt. Diese Fähigkeit des Gehirnes, ständig neue Verknüpfungen zu bilden, bedeutet im Prinzip, dass der Mensch immer lernfähig ist und sich auch von Störungen und Verletzungen erholen kann. Wollen wir aber Einstellungs- und Verhaltensänderungen herbeiführen, von bereits lange Zeit erprobten und gelebten Einstellungen und Verhaltensweisen, wird es schwierig diese "festen Verdrahtungen" zu lösen. Reden nützt hier meist wenig. Erfolgsversprechender ist Handeln: durch wiederholtes ‹ben von neuen Denk- und Verhaltensweisen im Rollentraining können neue neuronale Verbindungen geformt und verstärkt werden. So können beispielsweise Personen mit einem ungünstigen Selbstmanagement in Krisensituationen von Rollentrainings profitieren, bei denen sie angemessene Verhaltensweisen anderer genau beobachten können und dann in verschiedenen simulierten Situationen diese adäquaten Verhaltensweisen durchspielen können. Das Rollentraining bietet den Vorzug, komplizierte Verhaltensweisen in kleine Einzelelemente zu unterteilen, diese Lernschritte zunächst einzeln zu üben und sie dann wieder zu einer ganzen Verhaltenssequenz zusammenzusetzen. Dieses wiederholte Durchspielen von Verhaltensmustern führt zu neuen stabilen neuronalen Verknüpfungen, die eine Chance haben, alte Muster abzulösen. Die Devise lautet hierbei: üben, üben, üben.
Die oben beschriebene Metapher der vier Theater des Gehirns und die neurologischen Ausführungen über die Lernaktivität der Neuronen stammen aus des Buch Das menschliche Gehirn – Eine Gebrauchsanweisung, von John J. Ratey.

3. Rollenspiel: eine effiziente Lernmethode
Grundvoraussetzung für effizientes Lernen, ist die Bereitschaft, auf den vier Bühnen des Gehirnes arbeiten zu wollen. Dazu braucht es Bewegung: die Lernenden müssen auf die Bühne treten. Dies zu ermöglichen ist die grosse Aufgabe des Leiters. Die Bühnenarbeit läuft dann fast wie von selbst, das Spielen versetzt den Menschen in einen wohltuenden, bisweilen sogar ekstatischen Zustand des Fliessens. Die Bühne bietet einen gefahrlosen Rahmen, um Erkenntnisse zu machen und den Umgang mit den eigenen Emotionen zu erproben. Voraussetzung dazu ist die Autonomie und Selbstverantwortlichkeit der Lernenden in und für den Lernprozess. Spiel ist eine freiwillige Handlung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des "Andersseins" als das gewöhnliche Leben. So definiert, scheint der Begriff geeignet zu sein, alles zu umfassen, was wir bei Tieren, Kindern und erwachsenen Menschen Spiel nennen: Geschicklichkeits- und Kraftspiele, Verstandes- und Glücksspiele, Darstellungen und Aufführungen. Spielen kann als einer der allerfundamentalsten geistigen Elemente des Lebens angesehen werden."(Huizinga 1997, S.37)

Angenommen Sie können zwar schwimmen, haben aber Angst den Kopf ins Wasser einzutauchen – so werden sie bestimmte Schwimmtechniken wie Crawl oder Brust nur schlecht beherrschen können. Ich empfehle ihnen folgendes Rollentraining: Nehmen Sie eine grosse Salatschüssel, füllen sie diese mit Wasser, ziehen Sie ihren Badeanzug an, stellen sie sich vor, sie seien im Schwimmbad, und trainieren sie die Crawl-Atem-Technik wie folgt: Einatmen, Gesicht ins Wasser eintauchen, unter- Wasser ausatmen, den Kopf nach rechts wenden bis Mund und Nase an der Luft sind, einatmen, das Gesicht wieder wenden und ins Wasser tauchen usw.
Dies ist kein Witz. Diese Salatschüssel-Simulation wird im Rahmen eines Schwimmkurses seit Jahren erfolgreich eingesetzt. Rollenspiele übrigens auch.


Huizinga, J. (1997): Homo ludens – Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek (rororo)
Krause-Pongratz, D. (1999): Das pädagogische Rollenspiel – Systematische Untersuchung zu Begriff und Möglichkeiten. Marburg (Tectum)
Krüger, R. (1997): Kreative Interaktion – Tiefenpsychologische Theorie und Methoden des klassischen Psychodramas. Göttingen (Vandenhoeck&Ruprecht)
Mussen, P.H. et.al.(1993): Lehrbuch der Kinderpsychologie. Stuttgart (Klett Cotta)
Oerter, R. (1997): Psychologie des Spiels. Weinheim (Beltz)
Ratey, J.R. (2001): Das menschliche Gehirn – Eine Gebrauchsanweisung. Düsseldorf (Walter)
Schaller, R. (2001): Das grosse Rollenspielbuch – Grundtechniken, Anwendungsformen, Praxisbeispiele. Weinheim (Beltz)
Wallenwein, G.F. (1999): Spiele – der Punkt auf dem i. Weinheim (Beltz)